Die Jugend und die Junggebliebenen tanzten in Lokalen wie dem Flex, unterstützt von einer florierenden Wiener Visual-Szene, zur elektronischen Musik, neue Kulturinstitutionen wie die Kunsthalle oder private Kunstinitiativen wie die Generali Foundation öffneten für Kulturinteressierte ihre Pforten und die Medienkunst machte sich auf, sich mit Werken von unter anderem Kurt Hofstetter und Margot Pilz auch im öffentlichen Raum wörtlich fest zu verankern. In der Wiener Kunstszene zog vielerorts der Kitsch als ironisches Stilmittel ein und der Gender-Diskurs erlebte angespornt durch Judith Butlers queer-feministischen Bestseller „Das Unbehagen der Geschlechter“ frischen Wind bevor er im Trend der neuen Metrosexualität und im Burlesque-Revival kommerzialisiert wurde.
Das alles boten die 90er Jahre – ein Jahrzehnt, in dem der Blick gen Osten für Wien vor allem noch neue kreative Impulse und Möglichkeiten verhieß, das Antlitz der Globalisierung noch nicht ganz so hässlich war und die Rollenbilder eher zerbröselten als angekurbelt von nationalistischen Bestrebungen erneut in alter Pose zu erstarren drohen.
Eine sprichwörtlich gute alte Zeit war dieses letzte Jahrzehnt im vorigen Jahrtausend trotz Aufbruchsstimmung und der Fülle an künstlerischen Stilrichtungen jedoch nie. Etwas wovon man sich bereits im ersten Teil der Ausstellungstrilogie über die Wiener Kunstszene in den 90er Jahren im Wiener Musa überzeugen konnte. Standen hier noch Themen wie Ostöffnung, Vergangenheitsaufarbeitung und Xenophobie im Mittelpunkt, so widmet man sich im zweiten Aufzug (wie man die unterschiedlichen Teile elegant betitelte) noch bis 30. September der Subversion. Nicht selten kommen dabei Kitsch und Ironie als Stilmittel zum Einsatz.
Mit Kitsch und Handarbeit
Dem Schwerpunkt folgend leuchtet aktuell – quasi als Speerspitze des Kitsches – Renate Bertlmanns „Orangenbaum“ den Musa-Besucherinnen und -besuchern in den großen Ausstellungsraum den Weg. Zum Kitsch kam Bertlmann (obwohl sie bereits in den 70er Jahren mit ihren politisch-feministischen Werken ins Licht der Öffentlichkeit rückte, noch in den 90er Jahren von keiner Galerie vertreten wurde) über ihr Interesse an religiöser Volkskunst und ihrer Auseinandersetzung mit Souvenirs. Der silber-orangefarbene „Zauberturm“ ist das erste Mal nach seiner Erstpräsentation im Rahmen der Ausstellung „Schneegestöber – Flitterstürme“ 1993 wieder in der Öffentlichkeit zu sehen. Flitter, Präservative, aber auch Latex und fluoreszierendes Plexiglas wurden von der Künstlerin (die Österreich übrigens nächstes Jahr bei der Biennale in Venedig vertreten wird) in Skulpturen eingearbeitet und kamen bei Performances zum Einsatz. Nicht die einzige Künstlerin der Schau, die sich einer ungewöhnlichen Materialbreite bediente.
Ausstellungs-Kuratorin Brigitte Borchhardt-Birbaumer ortet in den 90er Jahren geradezu eine Fülle an unterschiedlichsten Werkstoffen. Vom Federbild (Linde Hörls ironische Auseinandersetzung mit dem Trend zur Geometrie) über die Flascheninstallation „I did it“ von Michael Kienzer bis hin zu Ilse Haiders mit einem Elektromotor betriebene Skulptur „Verpatzte Hochzeitsnacht“ aus rosafarbenen Wattestäbchen, die wie ein Ungetüm im Raum umher wabert, erstreckt sich die Palette, mit der man im Musa aufwartet.
Auf die Keramik gekommen ist beispielsweise Kiki Kogelnik. Die österreichische Künstlerin, die einen wichtigen Teil ihrer Karriere in den Vereinigten Staaten verbrachte, begann in den 90er Jahren bunte Keramikfiguren zu entwerfen und sich unter anderem kritisch mit Schönheitsidealen und Weiblichkeit auseinanderzusetzen.
Einem typisch weiblichen Metier, dem Sticken, wandten sich die Künstlerinnen Carla Degenhardt und Elisabeth Melkonyan zu. Statt harmlosen Mustern und beschaulichen Bildchen wird die traditionell weiblich besetzte Handarbeit durch die Fabrikation von kleinen Pornobildchen zum subversiven politischen Statement gegen festgeschriebene Rollenbilder mitsamt ihren Klischees umfunktioniert.
Zu schwer für jeden Mann
Doch es ging und geht auch umgekehrt. So nahm Götz Bury mit seinem untragbaren „Hemd“ aus Schneeketten die starke Männlichkeit aufs Korn, Shooting Star der 90er Jahre, Erwin Wurm, entwarf Pullover-Skulpturen und Matthias Hermann schlüpfte in seiner bekannten Fotoserie von 1997 unter anderem in die Rolle eines „lederschwulen“ Künstlerprofessors und spielt mit unseren Vorurteilen von Sex und Gender.
Mit dem Thema der Landschaftsmalerei setzte sich hingegen Josef Bauer auf humorvolle Art und Weise auseinander.
Amüsantes erwartet die Besucherinnen und Besucher aber auch bereits im Eingangsbereich. Wie schon in der vorangegangenen Präsentation lädt eine Videowall aus diversen Fernsehgeräten dazu ein, sich mit der in den 90ern aktuellen Videokunst zu beschäftigen: von Mara Mattuschkas Klassiker „Unternehmen Arschmaschine“ über einen Umzug von K.U.SCH bis hin zu Judith Huemers Ohrwurm „Judith du bist ja keine 17 mehr“. Letztere Arbeit ebenso gesellschaftskritisch wie entzückend komisch.
Keinen Spaß sahen allerdings einige in der Aktion von Objektkünstler Marcus Geiger. Die Fotografien von Anna Meyer dokumentieren die Secession von Geiger in rote Farbe getaucht. Für Aufsehen sorgte auch Elke Krystufek mit ihrer Live-Masturbation in der Kunsthalle. Im Musa nimmt ein Gemälde von ihr den Selfie-Trend des neuen Jahrtausends vorweg.
Ebenfalls zu sehen ist eine kleine Auswahl an Arbeiten von Art Brut Künstlern wie Oswald Tschirtner und August Walla, die in den 90er Jahren längst im internationalen Kunstmarkt angekommen waren, so wie Werke jener, die in ihren Werken für das eigene Schaffen Inspiration fanden.
Alles in allem eine bunte Palette, die Lust auf mehr macht. Der dritte Teil zur neuen Geometrie und zu neuen Formen des Teamworks und des Crossovers sowie der (medialen) Präsentation folgt im Herbst.
Die 90er Jahre
Eine Ausstellung in drei Aufzügen:
2. Aufzug – Subversive Imaginationen
12. Juli – 30. September 2018
3. Aufzug – Mobile Kunst im mobilen Markt
11. Oktober 2018 – 20. Jänner 2019
MUSA Museum Startgalerie Artothek
Felderstraße 6-8, 1010 Wien
Öffnungszeiten: Di bis So, 10.00 bis18.00 Uhr
Eintritt frei!
www.musa.at
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